Wien: Untätige Bezirkspolitik bremst Verkehr

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London baute um eine Milliarde Euro die zweite Generation der Cycle Super Highways, Norwegens Städte bekommen 850 Millionen Euro für Radschnellwege, Paris investiert 150 Millionen Euro in den Radverkehr, inklusive der Errichtung innerstädtischer Radschnellwege. Finanziell betrachtet steht Wien mit 6 Millionen Euro Jahresbudget im Schatten dieser Kommunen, die bis vor kurzem niemand als Radverkehrs-Vorzeigestädte bezeichnet hätte. Warum schaffen es Wien und die Bezirke nicht, mehr in den Radverkehr zu investieren und die Projekte auch wirklich durch die Politik getragen auf die Straße zu bringen?

Mehr Platz für alle durch Radwege und Fahrradstraßen

Dort, wo Radverkehr-Infrastruktur ausgebaut ist, wird sie auch angenommen. Das hat positive Auswirkungen für alle Bewohnerinnen: weniger Stress, mehr Sicherheit und Besseres Vorankommen für alle Verkehrsteilnehmerinnen. Es entsteht mehr Platz für Menschen und Bäume. Lärm, Staub und vor allem Staus reduzieren sich. Denn jede Fahrt mit dem Fahrrad macht Platz für jene, die tatsächlich auf ein Auto oder auf derzeit übervolle Öffis angewiesen sind. Weil Menschen im Normalfall den direkten Weg vorziehen, sollte es viele logische Verbindungen geben. Damit Wien und Österreich ihr Ziel - die Radverkehrsverdoppelung erreichen braucht es deutlich größere Anstrengungen für mehr Radwege und Fahrradstraßen.

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Analyse: Wie fleißig und geschickt sind Wiens Bezirke?

Darüber, dass es für die Erhöhung des Radverkehrsanteils von derzeit 7 auf 10 Prozent auch entsprechende Maßnahmen braucht, weiß die Stadt Wien Bescheid. Aus diesem Grund wurden 2003 die Wiener Hauptradrouten in StadtWien-Verantwortung geholt. Die Ausprägung dessen ist das jährliche Bauprogramm Radverkehrsanlagen. Im Jahr 2019 sind sieben Projekte darin enthalten; drei Einbahnöffnungen, eine Ampel und drei baulich getrennte (Geh-)&Radwege. Aus diesem Topf werden also ca. 3 der 2.800 Straßenkilometer Wiens umgebaut.
Die Radlobby Wien hat dieses Bauprogramm genauer unter die Lupe genommen – vom Entstehungsjahr 2003 bis 2018 – und dabei erhebliche Unterschiede in der Aktivität der verschiedenen Bezirke festgestellt, wenn es um die Anzahl* der realisierten Projekte geht.
Schaut man sich die Anzahl pro Bezirk im Detail an, fällt vor allem eines auf: Insgesamt wird wenig umgebaut und die Anzahl* der Projekte ist in den Bezirken ungleich verteilt.

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Anzahl* der Projekte im städtischen Bauprogramm pro Bezirk, Stand 14.5.2019

*Hinweis: Die Anzahl der realisierten Projekte im Bauprogramm der Stadt Wien ist nur eine quantitative Kennzahl von mehreren in der Performance der Bezirke. Darin nicht enthalten sind jene Projekte, die abseits vom städtischen Hauptradverkehrsnetz liegen und damit nicht vom Stadt-Budget finanziert werden. Diese liegen in der Zuständigkeit des jeweiligen Bezirks, eine einfach verfügbare systematische Aufzeichnung existiert in fast keinem Bezirk. Eine Analyse der Qualität, Relevanz und Strecken der realisierten Projekte im jährlichen Bauprogramm der Stadt Wien bietet sich förmlich an. Spenden Sie hier, damit die Radlobby Wien diese Auswertung realsieren kann.

Die Bezirke Wieden, Neubau, Josefstadt, Ottakring, Währing und Brigittenau haben in den letzten 15 Jahren jeweils weniger als 10 Projekte umgesetzt, während etwa im ersten, zweiten und dritten Wiener Gemeindebezirk jeweils über 30 Bauvorhaben durch die Stadt Wien realisiert wurden, in der Donaustadt sogar über fünfzig.

Auffällig ist dabei, dass etwa im 20. Bezirk (am Ende der Liste) seit 2011 kein einziges Projekt umgesetzt wurde, wobei vor der Bezirksvertretungswahl 2010 jährlich rund eine Projekt errichtet wurde. Im 13. Bezirk war es seit dem ein einziges Projekt.
Im 8. Bezirk ergibt sich ein anderes Muster: dort werden anscheinend exakt alle fünf Jahre 1-2 Projekte an Land gezogen, was mit der Grund sein mag, dass in der Josefstadt die geringste Anzahl von Radverkehrsanlagen gebaut wurde – mit sechs in 15 Jahren ähnlich wenige wie im 20. Bezirk.
Der 16. Bezirk schneidet in dieser Gegenüberstellung kaum besser ab: im Zeitraum von 2008 bis 2017 wurde keine einzige Maßnahme durch das Bauprogramm umgesetzt, und das obwohl der Sechzehnte aufgrund seiner großen Fläche einiges an Möglichkeiten bieten würde.
Ein anderes Bild ergibt sich naturgemäßg in den großen Flächenbezirken Floridsdorf und Donaustadt. Hier vergeht beinahe kein Jahr ohne Errichtung von Fahrradinfrastruktur. Im Jahr 2010 werden in der Donaustadt acht Bauvorhaben gefördert, mehr als die Bezirke Josefstadt, Ottakring und Brigittenau jeweils im gesamten Betrachtungszeitraum errichteten.
Insgesamt lässt sich also feststellen, dass einige Bezirke sehr aktiv sind, was die Errichtung neuer Radverkehrsanlagen über das Bauprogramm betrifft. Andere haben allerdings Aufholbedarf. Die genaue Auflistung und das Ranking finden Sie in der obenstehenden Tabelle.

Ergänzung nach Veröffentlichung : Das Bauprogamm 2019 wurde online ergänzt, die neuen Projekte sind jedoch noch nicht in der quantitativen Analyse dieses Artikels enthalten. Das Bauprogramm 2019 ist damit von sieben auf 16 Einzelprojekte angewachsen. Die zusätzlichen neun Projekte befinden sich an zwei neuen Radrouten:

  • Radwegebau im Wiental im Bereich des Naschmarkts (1., Friedrichstraße und 6., Linke Wienzeile)
  • Rad-Langstrecke Süd rund um die Oberlaaer Straße (10., Bahnlände, Franzosenweg, Radnitzkygasse, Rosiwalgasse, Verbindugnsweg und Weidelstraße)

Bezirksbudgets fehlen großteils

Die Verdoppelung Radverkehrsanteils in Wien wird kaum durch einen Fleckerlteppich von Fahrradinfrastruktur zu bewerkstelligen sein, stattdessen braucht es ein lückenloses Netz in dem sicheres Radfahren gewährleistet wird. Eine Orientierungshilfe der dafür notwendigen Qualität liefern die Infrastrukturleitlinen der Radlobby Wien. Durch die relative Untätigkeit einiger Bezirke besteht allerdings die Gefahr, dass Jahre verstreichen, ehe Hindernisse beseitigt werden, obwohl die Stadtverwaltung bereits beim Bau unter die Arme greifen würde.

Unabhängig vom Bauprogramm sind die Bezirksbudgets für die Verbesserung von Radinfrastruktur. In Wien fehlen diese defakto komplett, siehe Tabelle unten. Daher gehen lokale Verbesserungen abseites der Hauptradrouten wenn überhaupt nur sehr schleppend voran gehen, denn: Das Budget bildet auch immer den politischen Willen ab. Damit sich die Bezirke ihrer Verantwortung bewusst werden und sich in Ihrem Bezirk etwas verbessert: jetzt bei einer der achtzehn Radlobby Wien Bezirksgruppen engagieren!

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Stadt investiert nur den Gegenwert eines Krügerls jährlich

Von 2010 bis 2014 wurden von der Stadt Wien sieben Millionen Euro in Bewusstseinsbildung investiert, darunter waren auch Kosten für die Velocity und das Radjahr 2013. Dem gegenüber stehen pro Jahr ca. sechs Millionen Euro, die für das "Hauptradverkehrsnetz Wien" verwendet werden. Das entspricht dem Gegenwert eines Krügerls pro EinwohnerIn jährlich. In die öffentlichen Verkehrsmittel investiert Wien übrigens etwa das Hundertfache pro Kopf und Jahr.
Um Schritte in Richtung mehr Radverkehr gehen zu können, sollten es jedoch 30 € pro Person und Jahr sein. Die baulichen Maßnahmen für den Radverkehr sind im Vergleich zu sonstigen Straßenbauten sehr kostengünstig. Andere Mittel, die den Radverkehr voranbringen, sind fast ohne Budget umsetzbar. Der politische Wille in den Bezirken oder mangelnde Konsens sind hier die großen Hürden bei der Beseitigung der Schieflage im Verkehr. Ein typischer Fall sind Änderungen im Straßenraum, die zur Errichtung einer schlüssigen Radinfrastruktur notwendig sind. Bestes Beispie für diese politischen Blockaden sind reflexartige Ausraster einer weniger politischer Akteure, wenn es um den Radwegebau in Wien geht.

Grobe Mängel an konkreten Straßenzügen und Kreuzungen

Fast jeder radfahrende Mensch kennt berüchtigte Kreuzungssituationen wie Europaplatz/Gürtel, Meidling/Brücke zur Oswaldgasse oder Uraniakreuzung, an denen man ewig wartet respektive immer nur bruchstückhaft von Ampel zu Ampel vorwärtskommt. Die Stellen sind alle sehr ungerecht gestaltet. Riesige Flächen sind als allgemeine Fahrbahnen geplant und mit langen Grünzeiten sowie Überkapazitäten versehen, für Menschen zu Fuß oder am Rad gibt es kaum geschützten Platz und sehr umständliche Kreuzungen mit langen Wartezeiten. Am Europaplatz fehlt seit dem Jahr 2000 ein Radweg entlang der inneren Gürtelfahrbahn. Damit würden sich die Wartezeiten am Gürtel in diesem Abschnitt um 60 Prozent verringern lassen.

Eine solche wichtige Maßnahme ist Ihnen ein besonderes Anliegen? Beteiligen Sie sich beim Diskurs und melden Sie die Stelle im Radkummerkasten den Zuständigen.

Auf der Wienerbergbrücke bei der Oswaldgasse fehlt ein ostseitiger Radweg, ebenso ein südseitiger Radweg in der Breitenfurter Straße. Durch das Fehlen dieser schrumpfen die Anbindungen auf Rumpfkreuzungen mit derzeit nur rudimentären Anschlüssen. An der Radetzkybrücke östlich der Urania muss man als Radfahrer fünf Teilkreuzungen überwinden, um einmal links abzubiegen. Das ist einer Stadt Wien und eines Bezirkes Wien-Landstraße nicht würdig, während parallel sieben Fahrspurbreiten dem Kfz-Verkehr gewidmet sind. Dort fehlt ebenfalls ein einfaches und direktes Kreuzungsdesign, das Gerechtigkeit zwischen den Verkehrsformen schafft.

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Eine klassische Alltagssituation bei der Urania-Kreuzung. 

Derzeit gibt es insgesamt nur etwa 130 Kilometer Radwege auf den etwa 2.800 Straßenkilometern in Wien, das entspricht bloß 5% der Straßen Wiens. Auf vielen anderen Verbindungen findet man sich im Mischverkehr mit Kraftfahrzeugen bei Tempo 50 wieder oder man steht vor Barrieren wie beispielsweise noch nicht geöffneten Einbahnen. Abseits des Hauptnetzes sind viele Bezirksgassen mittlerweile Teil einer Tempo-30-Regelung und verkehrsberuhigt. Dort lässt es sich gut Rad fahren. Zielzustand dieser vieler Seitengassen ohne hochrangige Verbindungen sind Straßen für alle, wo Wohnstraßen den öffentlichen Raum wieder zum Raum für Menschen machen.

Wichtige Verbindungen fehlen

Es fehlt in Wien eine große Anzahl an wichtigen Verbindungen, die man entspannt und sicher beradeln kann. An vielen Wiener Hauptstraßen braucht es baulich getrennte Radwege beziehungsweise in den Wohnvierteln Kfz-verkehrsberuhigte Fahrradstraßen. Hier ist z.B. der Getreidemarkt bergauf zu erwähnen, ebenso die Linke Wienzeile mit dem derzeit geplanten Radweg. In Wien fehlen sichere Radwege auf der Triester Straße, der Wagramer Straße, am Flötzersteig, der Gersthofer Straße, der Geiselbergstraße, der Hausfeldstraße, der Eipeldauer Straße und der Brünner Straße. Verkehrsberuhigte Fahrradstraßen fehlen beispielsweise in der Argentinierstraße, der Neulinggasse, der Spengergasse, der Penzinger Straße, der Hasner Straße, der Geblergasse, der Treustraße, An der Oberen Alten Donau, am Satzingerweg und in der Benyastraße. - Hier ein detailliertes Interview im Online-Standard dazu.
Seit vielen Jahren sind viele Lücken zwischen Stücken der Wiener Radinfrastruktur unverändert. Etwa zu der Hälfte der Lücken im Radverkehrsnetz gibt es Überlegungen bis hin zu Planungen einer Realisierung. Im Regelfall scheitert die Umsetzung dieser bisher am Widerstand durch kurzsichtige BezirkspolitikerInnen.

Radlobby Wien Sprecher Roland Romano dazu: "Bei vielen ist offenbar eine zeitgemäße Verkehrspolitik noch nicht angekommen. Damit Wien nicht durch immer mehr Stau zurückfällt, braucht es neue Mobilitätsangebote im Umweltverbund. Damit die Bezirke mehr Leute fürs Radfahren begeistern, heißt es: über den Tellerrand schauen und Radwege sowie Fahrradstraßen bauen, damit in der Stadt mehr Platz in den Straßen für Grün, Lebensqualität und notwendige Verkehre frei wird."

Konkrete Ideen und Anregungen für mehr Radverkehr? Schau vorbei beim JourFixe der Radlobby Wien.