Knapp vorbei

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Überholen Autofahrende wirklich so eng, wie viele Radfahrer*innen denken? Ein Forschungsprojekt in Graz hat das untersucht. Das Ergebnis: Nur bei 45 Prozent der Überholvorgänge wurde ausreichend Abstand gehalten.

Die Situation kennen wohl alle, die im Alltag mit dem Rad unterwegs sind: ein Auto überholt, und man hat das Gefühl: Das war zu knapp! Aber stimmen diese subjektiven Einschätzungen eigentlich, oder empfinden Radfahrende Überholvorgänge als knapper, als sie tatsächlich sind?

Gemeinsam mit Martijn Kiers vom Institut für Energie-, Verkehrs- und Umweltmanagement der FH Joanneum und zwei seiner Studierenden hat die Radlobby ARGUS Steiermark das subjektive Gefühl vieler Radfahrer*innen mit Hilfe von Sensoren zur Abstandsmessung wissenschaftlich überprüft. Das Ergebnis: Bei mehr als der Hälfte der rund 2.000 gemessenen Überholvorgänge wurde der Mindestabstand von 1,5 Metern, den die Radlobby seit Jahren fordert und der ab 1. Oktober auch gesetzlich vorgeschrieben ist, unterschritten. Bei fast jedem siebten Überholvorgang wurde sogar ein Abstand von weniger als einem Meter gemessen.

Die Messungen fanden im November und Dezember 2021 statt. 53 Grazer Radfahrende legten dafür ihre Alltagsradwege mit einem an der Sattelstütze montierten Messgerät, dem sogenannten OpenBikeSensor, zurück. Bei der Auswahl der Teilnehmer*innen wurde auf möglichst große Diversität im Hinblick auf Geschlecht, Altersgruppe, Fahrradtyp und Ausrüstung beim Radfahren (z.B. Helm, Warnweste, Kindersitz) geachtet. Bei jedem Überholvorgang drückten die Teilnehmenden einen Knopf an ihrem Fahrradlenker, und das Gerät maß und speicherte den Abstand.

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Grafik: DRAHTESEL

Kein Zusammenhang mit Infrastruktur 

Wo überholen Autofahrende besonders eng? Welche Infrastruktur verleitet dazu? Das untersuchte der Student Florian Gorfer in seiner Bachelorarbeit. Er analysierte dafür 25 Straßenabschnitte, auf denen besonders oft Überholabstände von unter eineinhalb Metern gemessen wurden. 

Dafür nutzte er unter anderem das Tool Bike Citizens Analytics, das auf Basis der GPS-Daten aller Radfahrten, die mit der Fahrrad-App Bike Citizens aufzeichnet werden, die Attraktivität von Straßenabschnitten zeigt: Es vergleicht die Wege, die die Nutzer*innen tatsächlich fahren, mit der kürzesten Route vom Ausgangs- zum Zielpunkt. Nehmen auf einer bestimmten Route besonders viele Nutzer*innen einen Umweg in Kauf, um an ihr Ziel zu gelangen, zeigt das Analyse-Tool den Umweg als „bevorzugte Route“ an und die wenig genutzte direkte Verbindung als „gemiedene Route“. 

Gorfers Analyse ergab nun: 18 der 25 Abschnitte, auf denen besonders oft knapp überholt wird, werden von Radfahrenden eher gemieden. Die anderen sieben Abschnitte sind bei Bike Citizens Analytics als bevorzugte Routen verzeichnet. Einer davon liegt auf einer verkehrsberuhigten Strecke – gut möglich also, dass sich Radfahrende hier deshalb relativ wohl fühlen, weil zwar knapp, aber mit niedrigem Tempo überholt wird (die Geschwindigkeiten der überholenden Kfz konnten bei den Messungen aus Kostengründen nicht erfasst werden). Bei den anderen sechs ist unklar, warum Radfahrende sie trotz knapper Überholmanöver bevorzugt nutzen. Vermutlich sind die Alternativen einfach aus anderen Gründen noch unattraktiver. 

85 Prozent fühlen sich gefährdet 

Kein Muster fand Gorfer bei der Frage, wie Straßenbreite und Überhol abstände zusammenhängen: Unter den Abschnitten, auf denen besonders häufig eng überholt wurde, waren sowohl solche, wo ein Überholen mit ausreichend Abstand prinzipiell möglich ist, als auch solche, wo die geringe Straßenbreite es gar nicht erlaubt. 

In einer zweiten Bachelorarbeit befragte die Studentin Kathrin Lenes die Teilnehmer*innen des Projekts – durchwegs routinierte Radfahrer*innen – nach ihrem subjektiven Sicherheitsempfinden. Sie fragte sie dabei unter anderem, welche Verhaltensweisen von Autofahrenden die Teilnehmer*innen besonders stören. Die Antwortmöglichkeit „zu enges Überholen“ wurde dabei mit großem Abstand am häufigsten angekreuzt: 83 Prozent der Teilnehmenden wählten sie aus. An zweiter und dritter Stelle folgten „Parken auf dem Fahrradstreifen“ mit 62 Prozent und „zu enges Abbiegen“ mit 57 Prozent. Auf die Frage, ob sie sich beim Radfahren „durch Überholmanöver des motorisierten Verkehrs gefährdet“ fühlen, antworteten 85 Prozent der Teilnehmer*innen mit „ja“. 

Routinierte Radfahrer*innen ärgern sich, wenn sie zu knapp überholt werden, lassen sich dadurch aber nicht vom Radfahren abbringen. Für Menschen ohne Radfahr-Routine im Straßenverkehr aber sind als unsicher wahrgenommene Überholvorgänge abschreckend. Es ist anzunehmen, dass manche von ihnen nach einem solchen Erlebnis nicht so bald erneut aufs Rad steigen. Strebt der Gesetzgeber eine Mobilitätswende an, muss er Rahmenbedingungen schaffen, die auch neuen Radfahrenden das Gefühl von Sicherheit vermitteln und auch faktische Sicherheit gewährleisten.

Es gibt keine Pflicht zum Überholen 

Die von der Radlobby seit Jahren geforderte und jetzt durch die 33. StVO Novelle umgesetzte Einführung eines gesetzlichen Mindestüberholabstandes schafft immerhin Rechtssicherheit für Radfahrende. Sie wird aber nur etwas bringen, wenn sie mit verstärkten Kontrollen und bewusstseinsbildenden Maßnahmen einhergeht. 

Die wenigsten Autofahrer*innen bringen Menschen auf dem Rad bewusst in Gefahr. Bei vielen fehlt es schlicht an Wissen oder an Empathie. Das zeigte sich auch in vielen Gesprächen rund um das Messprojekt, in denen immer wieder der Satz fiel: „Wenn ich eineinhalb Meter Abstand halten muss, kann ich ja gar nicht überholen!“ 

Tatsächlich gibt es Situationen im Straßenverkehr, in denen ein sicheres Überholen nicht möglich ist. Bei vielen Menschen muss jetzt Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass sie als Autofahrer*innen in solchen Situationen eben mit dem Überholen warten oder darauf verzichten müssen, statt zu knapp zu überholen. Denn es gibt viele Regeln im Straßenverkehr – aber einen Überholzwang gibt es nicht.

 

Das Forschungsprojekt 

  • Projektleitung: Simone Feigl 
  • Projektteam: Martijn Kiers, Florian Gorfer, Kathrin Lenes, Stephan Valentan, Brigitte Schicho, Walter Bradler, 53 abstandsmessende Radfahrer*innen
  • Messgerät: OpenBikeSensor, Ultraschall und GPS 
  • Zeitraum der Messungen: 4. November bis 16. Dezember 2021 
  • Aufgezeichnete Überholabstände: 2.002, davon 1.949 plausibel und zur weiteren Analyse verwendet 
  • Berechnung: Angenommen wurde eine Standard-Fahrrad breite von 70cm, von den an der Sattelstütze gemessenen Abständen wurden daher pauschal 35 cm abgezogen

 

Die Autorin Simone Feigl ist Vorstandsmitglied der Radlobby ARGUS Steiermark und Projektmanagerin bei Bike Citizens.

 

Dieser Bericht erschien erstmals im September 2022 im DRAHTESEL, dem österreichischen Fahrradmagazin: https://issuu.com/drahtesel

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Video:  So knapp wird in Graz überholt