Symposium: Wohnen wir in Zukunft autofrei?

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Ein hochkarätig besetztes Symposium zum Thema „Mobilität im Wohnumfeld – Motorisiert oder autofrei?" fand im Oktober auf Einladung von Der Standard, Wien 3420 AG, GESIBA, MIGRA und des Fachmagazins „Wohnen Plus“  in der Seestadt Aspern statt. Die Radlobby war dabei und bietet hier eine ausführliche Zusammenfassung der Fachbeiträge sowie Blitzlichter der politische Diskussion zwischen den Gemeinderäten Christoph Chorherr (Grüne) und Alexander Pawkowicz (FPÖ). Bereits der Untertitel "Alternativen zu Individualverkehr" war nicht ganz zukunftsfähig, schließlich zählen Radfahren und zu Fuß gehen auch zum Individualverkehr, eben zum entmotorisierten. Wie wurde also die Frage, welche Mobilitätsfaktoren die Wohnqualität in Zukunft beeinflussen werden, behandelt?

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Die Zukunft des Planeten

Dr. Eric Frey, Chef vom Dienst der Tageszeitung Der Standard, begrüßt die Gäste und ruft in Erinnerung: „Es geht auch um die Zukunft des Planeten“. Mit einem Augenzwinkern weist er darauf hin, dass er wohl einer der wenigen sei, die mit dem Rad gekommen sind. Das erstaunt angesichts des schönen Wetters und der für Radfahrende gut erschlossenen Seestadt, macht aber auch gleich deutlich, dass das Fahrrad von den meisten der TeilnehmerInnen wohl nicht als vorrangiges Verkehrsmittel genutzt wird. 
Dr, Gerhard Schuster, Vorstandsvorsitzender der Wien 3420 Aspern Development AG , eröffnet das Symposium. Sein Ziel ist es, eine Stadt zu entwickeln, in der bis zum Jahr 2028 mehr als 20.000 Menschen wohnen und fast ebenso viele arbeiten. Die Grundlage für die intelligente Stadt bilde eine gründliche und flexible Planung, dazu gäbe es den Masterplan aus dem Jahr 2007, der als städtebauliches Leitbild und Grundlage für alle weiteren Planungen dient. Der Masterplan versteht sich als städtebauliche Grundstruktur, die flexibel und robust auf Veränderungen reagieren kann.

Den Einstieg ins Thema macht Günther Ogris, Geschäftsführer des SORA Institute for Social Research and Consulting. Er erklärt, Mobilitätsbedürfnisse entstünden durch Landflucht und Urbanisierung. Jeder dritte Arbeitnehmer aus Niederösterreich pendelt beispielsweise nach Wien. Allerdings sind nur 11% der unter 30-jährigen mit dem Auto unterwegs, pro Jahr sinkt diese Zahl um ein weiteres Prozent. „Das heißt also, in 11 Jahren ist es niemand mehr“ meint Ogris nonchalant und bringt damit die Runde zum Lachen. Er weist darauf hin, dass das sozialkulturelle Verhalten des Umlandes den Wunsch nach Mobilität beeinflusst, das aktuelle Mobilitätsverhalten jedoch den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft schwächt.

Ogris beruft sich auch auf eine Studie, nach der bereits zweieinhalb Stunden Sport pro Woche die Gesundheit insgesamt um 10 Jahre verlängert. Das Thema „Radverkehr“ liegt damit eigentlich schon auf der Hand, dennoch dauert es eine ganze Weile, bis ein wenig Aufmerksamkeit darauf gelenkt wird. Den Schwerpunkt der Expertenstatements bildet die Frage nach den besten Stellplatz-Lösungen für Autos. 

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Stellplätze als Schnittstelle

Dipl.-Ing. Angelika Winkler, Leiterin Referat Mobilitätsstrategien der MA18, umreißt zunächst ein aktuelles Bild des Autoverkehrs in Wien: 

  • 27% der Binnenwege von WienerInnen werden mit dem Kfz zurückgelegt (das Ziel ist ein Verhältnis 20 zu 80 zwischen Autos und Fußgängern)
  • 60% der Straßenflächen werden vom motorisierten individualverkehr besetzt.
  • Es gibt 371 Autos pro 1000 Einwohner, das heißt: etwa zwei von drei BewohnerInnen besitzen kein Auto.
  • 28% der öffentlichen Flächen werden für Parkplätze genutzt

Winkler bezeichnet den Stellplatz als Schnittstelle zwischen Wohnen und Mobilität. Auf die Frage der Radlobby, wie es mit Fahrradabstellplätzen aussieht, meint sie, man hätte sich damit noch nicht im Detail beschäftigt, dazu gäbe es keine konkreten Zahlen. 

Dipl.-Ing. Harald Frey ist als nächstes an der Reihe. Er ist Verkehrsplaner am Institut für Verkehrswissenschaften an der Technischen Universität Wien und weiß: „Straßen schaffen Barrieren und zerstören soziale Bindungen“. So würden beispielsweise Menschen, deren Wohnräume durch eine (auch nur wenig) befahrene Straße örtlich getrennt sind, miteinander weitaus weniger Kontakt haben, als jene, die für eine persönliche Kontaktaufnahme keine Straße queren müssen.

Hubert Hermann, Architekt in Wien, plädiert für die Qualität der Freiräume. Das Stellplatzregulativ solle nicht die Stadträume beherrschen. Das Auto sei „immer noch irgendwo ein Fetisch“, oftmals würde es nicht wirklich gebraucht werden. Er kritisiert, dass „die Stadtplanung von lebendigem, reichlich vorhandenen Raum“ ausgehe – ein Fehler, denn Raum sei nicht überall lebendig, und eher knapp als im Überfluss verfügbar. 

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Konzepte aus der Praxis 

Die drei nächsten Redner bieten Konzepte aus der Praxis: 

Dipl.-Ing. Herwig Pernsteiner, Direktor der ISG (Innerviertler Gemeinnützige Wohnungs und Siedlungsgenossenschaft, Ried/Innkreis) teilt Handouts aus. Darin zeigt er anhand zwei konkreter Personen auf, dass die Entscheidung „mit oder ohne Auto“ primär von exogenen Faktoren abhängt und insbesondere von Gelegenheiten beeinflusst wird. Bettina und Klaus legen beide täglich 3,4 Wege zurück. Bettina wohnt im innerstädtischen Bereich, Klaus im ländlichen. Beide wollen mit möglichst geringem Aufwand von A nach B  kommen. Dazu braucht Bettina nicht zwingend ein Auto, bei Klaus jedoch sieht die Sache anders aus. Pernsteiner stellt gegenüber:

  • Tradition vs. Ökonomie
  • Komfort vs. Ökologie
  • Wirklichkeit vs. Anspruch
  • Nutzer vs. Planer

„Der Köder muss dem Fisch schmecken, nicht dem Planer“ heißt es auf der letzten Seite seines Handouts.

Auch Dr. Alexander Kopecek, Vorstand für den Mobilitätsfond in der Seestadt Aspern und Mag. Martin Ortner, Obmann der EBG (Ein- und Mehrfamilienhäuser Baugenossenschaft, Wien) bringen ähnliche praktische Beispiele. 

Motorisierten Individualverkehr eindämmen 

In anschließenden Tischgesprächen widmet man sich der Frage: „Mit welcher Maßnahme kann die Politik den Individualverkehr eindämmen?“ und einigt sich auf einen Vorschlag zur Präsentation im Plenum. Auch hier zeigt sich bereits an der Fragestellung die inhärente Problematik: Der entmotirisierte Individualverkehr ist offenbar noch zu wenig in den Köpfen verankert. Auf Tisch 1 leitet Ines Ingerle von der Radlobby die Aufmerksamkeit sehr vehement in Richtung Radverkehr. Man ist sich nach intensiver Diskussion einig, dass es mehr Werbemaßnahmen für alternative (i.e. entmotorisierte) Mobilität braucht und Budgetmittel für die Radinfrastruktur freigegeben werden müssen. Man soll das Rad am Radar haben.

Die Gruppe ist der Meinung, dass teilen oftmals besser ist, als besitzen und findet den Gedanken einer Velothek spannend. Hier soll man Räder ausborgen und teilen können, ähnlich, wie man in einer Bibliothek seit jeher Bücher ausborgt. Besonders für Lastenräder, Fahrradanhänger und Ebikes erscheint das besonders reizvoll. In der Velothek des jeweiligen Wohnbereichs könnten sich die Bewohner diese Gefährte teilen.

Mithilfe der künstlichen Intelligenz soll der Sharing-Gedanke einfach umsetzbar gemacht werden. Das Leihsystem soll mittels App administrierbar sein und es beispielsweise ermöglichen, sich mit einem Klick in einen „Ausleih-Kalender“ einzutragen. Der Slogan lautet: „Check die Velothek!“. Die Gruppen präsentieren im Plenum die Ergebnisse ihrer Diskussionsrunden:

  • Tisch 1: Check die Velothek 
  • Tisch 2: Koordination von Wohnbauförderung, Verkehrs- und Raumordnungspolitik 
  • Tisch 3: Lebens – statt Verkehrsflussqualität 
  • Tisch 4: Mobilitätsfonds für die ganze Stadt 
  • Tisch 5: Öffis öfter
  • Tisch 6: Ohne Mix geht nix 
  • Tisch 7: Versperrbare Radboxen bei Öffi-Stationen
  • Tisch 8: Check die Förderung 
  • Tisch 10: Face the truth / Kostenwahrheit 

Rahmenbedingungen erschaffen

Den Abschluss des Symposiums bildet die politische Debatte zwischen Grünen-Gemeinderat Christoph Chorherr und FPÖ-Gemeinderat Alexander Pawkowicz unter der Moderation von Dr. Eric Frey.

Chorherr hofft auf mehr Verteilungs-Gerechtigkeit und Umverteilung von Raum, man soll „Rahmenbedingungen erschaffen, die autofreie Fortbewegung ermöglichen“ und „platzsparende Formen der Mobilität gewährleisten“. Auch Kindern soll es möglich sein, sich sicher im Stadtverkehr fortzubewegen. Chorherr fordert: „Kinder auf´s Rad!“.  
Pawkowicz hingegen warnt vor einer Überforderung der Gemeinnützigen. Er wettert gegen die sinnlose Eröffnung von Radwegen, wie etwa „jenen in der Arndtstraße, wo täglich nur 37 Radler fahren“ .

Zu dieser Aussage gibt Roland Romano, Infrastruktursprecher der Radlobby Wien, folgende Stellungnahme ab: 

Die Radlobby Wien sieht im Projekt "Einbahnöffnung Arndstraße" eine zeitgemäße und angemessene Maßnahme, um den Radverkehr in Meidling und Margareten zu heben. Die Arndstraße verbindet als Hauptradroute das Meidlinger Platzl mit den Hauptradrouten Gürtel und Margaretenstraße; darüber hinaus verbessert die Einbahnöffnung die Flächenerschließung. - dies ist im Sinne einer faktenorientierten, zukunftsfähigen Verkehrsplanung zu begrüßen. Hierzu sei festgehalten: Bei der Anlageart  in der Arndstraße (zw. Meidl. Platzl und Längenfeldg.) handelt es sich nicht um einen Radweg laut StVO, sondern um eine Fahrbahn mit Gegenverkehr in einer Einbahnstraße. Dies wird in solchen Fällen allgemeinen als "geöffnete Einbahn" bezeichnet. Fraglich ist jedenfalls, welche Erhebungsmethode für diese Aussage herangezogen wurde. Ohne Angaben von Messmethode, Straßenabschnitt, und Zeitraum sind angeführte Zahlen zu hinterfragen.

Für eine Stimmungsmache gegen das gute Projekt ist die Zahl der dort Radfahrenden jedenfalls schlecht geeignet. Zuvor war das Fahren in der Arndtstraße in Fahrtrichtung stadteinwärts nicht legal möglich, somit ist seit der Umsetzung der Einbahnöffnung in jedem Fall von einer Steigerung des Radverkehrs auszugehen.